Ungarns Anti-LGBTQI-Gesetz: Von Rechtsetzung zu Vertragsverletzung
„Dieses ungarische Gesetz ist eine Schande.“ Klare Worte fand Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einem Gesetz, das vom ungarischen Parlament am 15. Juni verabschiedet wurde. Das Gesetzespaket unter dem Titel „Änderungen von einigen Gesetzen zum strengeren Vorgehen gegenüber pädophilen Kriminellen sowie im Interesse des Kinderschutzes“ sieht neben Strafverschärfungen für Pädophilie auch Bestimmungen über Homosexualität und Transidentität vor. Seitens der EU stehen nun rechtliche Schritte im Raum, nämlich die Einleitung eines sogenannten Vertragsverletzungsverfahrens. Was man sich darunter vorstellen kann, soll in diesem Beitrag erklärt werden.
Im medial heiß umstrittenen ungarischen Gesetz soll der Zugang zu Informationen über andere sexuelle Orientierungen als Heterosexualität für Jugendliche, beispielsweise durch Programme an Schulen oder durch Aufklärungsbücher, verboten werden. Werbung, die Homosexualität oder Transidentität „darstellt oder popularisiert“ soll es in Ungarn zukünftig ebenfalls nicht mehr geben.
In einem Gesetzespaket einen Zusammenhang zwischen Aufklärung über LGBTQI-Inhalte und Pädophilie bzw. Kinderschutz zu konstruieren sowie Informationsmöglichkeiten zu beschränken, diskriminiert Menschen auf Basis ihrer geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung und verstößt gegen fundamentale Werte der EU - dieser Auffassung sind die EU-Kommission und zahlreiche EU-Staaten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán verteidigt allerdings das Gesetz und schloss jüngst eine Änderung oder Rücknahme aus.
Doch werden seitens der EU auch rechtliche Schritte eingeleitet oder wird es bei Presseerklärungen und rechtlich unverbindlichen Resolutionen bleiben? Ursula von der Leyen gab an, sie habe bereits die zuständigen Kommissare beauftragt, den ungarischen Behörden einen Brief zu schicken, in dem die rechtlichen Bedenken der Kommission kundgetan würden. Reicht das tatsächlich aus oder ist hier ein härteres Vorgehen wünschenswert?
Was im ersten Moment wie eine weitere lediglich politische Maßnahme zu klingen scheint, könnte bereits der erste Schritt in einem sogenannten Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn sein. Verstößt nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedsstaat gegen eine Verpflichtung aus dem Unionsrecht, kann es unter Umständen sogar bis zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof kommen. Die Möglichkeit, ein solches Verfahren zu führen, soll sicherstellen, dass das Unionsrecht von allen Mitgliedsstaaten eingehalten wird.
Vertragsverletzungsverfahren: a standard procedure?
Verträge in diesem Sinn sind zunächst der Vertrag über die Europäische Union, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, das sogenannte Primärrecht. Es stellt die „Verfassung“ der Europäischen Union dar. Doch auch das sogenannte Sekundärrecht, also alle auf das Primärrecht gestützten Rechtsakte der EU wie Richtlinien oder Verordnungen, müssen von den Mitgliedsstaaten eingehalten werden. Sogar allgemeine Rechtsgrundsätze, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt werden, also auch ungeschriebenes Unionsrecht, dienen als Maßstab für innerstaatliches Handeln.
Jedes Tun oder Unterlassen, das einem Staat zuzurechnen ist, also zum Beispiel Verhaltensweisen von staatlichen Organen, wie das Erlassen eines Gesetzes durch die Legislative, kann Unionsrecht verletzen und Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens werden. Bereits ab dem Gesetzesbeschluss, wie hier im Falle Ungarns, kann es zu Konsequenzen kommen. Dafür muss das Gesetz noch nicht einmal in Kraft getreten sein. Dazu kommt es vor allem, wenn Staaten eine Richtlinie mangelhaft oder nicht rechtzeitig umsetzen. Daher ist die Anzahl an Vertragsverletzungsverfahren über die Jahre auch immer wieder gestiegen, was sich dadurch erklärt, dass die EU stetig neue Regelungen erlässt, die von den Mitgliedsstaaten auch in nationalen Gesetzen oder Verordnungen umgesetzt werden müssen.
Vertragsverletzungsverfahren sind daher zwar keine Seltenheit, gehören aber insgesamt dennoch nicht zum europäischen Tagesgeschehen: Gegen Ungarn gingen in den Jahren 2015 bis 2019 insgesamt 13 Vertragsverletzungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof ein. Damit liegt es in diesem Zeitraum gemeinsam mit Österreich und Polen auf Platz fünf hinter Italien mit 15, Deutschland mit 16, Griechenland mit 17 und Spanien mit 20 eingegangenen Vertragsverletzungsverfahren. Doch wie kann es so weit kommen, dass sich ein Staat vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten muss?
Das Vorverfahren: politisches Pingpong
Bevor der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof landet, muss die Kommission ein Vorverfahren durchführen. Doch noch vor diesem formellen Vorverfahren findet ein sogenanntes informelles Vorverfahren statt. In dieser Phase erfolgt eine formfreie Kontaktaufnahme der Kommission mit dem betroffenen Staat, um darauf hinzuweisen, dass ein Verstoß vorliegt. So versucht man, Fakten zu klären und im besten Fall bereits in dieser Anfangsphase die Differenzen im diplomatischen Weg aus dem Weg zu räumen, und zwar einvernehmlich. In diesem Stadium befinden sich aktuell die Kommission und Ungarn.
Und wie könnte es potenziell weitergehen? Sollte der Verstoß dann immer noch nicht bereinigt sein, folgt das formelle Vorverfahren. Dieses ist bereits rechtlich bedeutsam, da es Voraussetzung für eine spätere Klage beim Europäischen Gerichtshof ist. Zunächst stellt die Kommission ein Mahnschreiben aus. Das ist eine Aufforderung an den betroffenen Mitgliedsstaat, sich zu den Bedenken zu äußern. In diesem Mahnschreiben muss dem Staat mitgeteilt werden, dass nunmehr ein formales Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurde. Außerdem muss die Kommission klar darlegen, inwiefern sie das Unionsrecht verletzt sieht und den Mitgliedsstaat auffordern, sich innerhalb einer Frist dazu zu äußern. Diese Frist beträgt in der Regel zwei Monate, sie kann aber dem Einzelfall entsprechend kürzer oder länger sein. Auf das Mahnschreiben kann der Mitgliedsstaat wiederum mit einer Stellungnahme antworten, in der er seine Ansicht darlegen kann, zum Beispiel, wieso keine Unionsrechtsverletzung vorliegt.
Der Dreh- und Angelpunkt des formellen Vorverfahrens ist jedoch eine mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission. Diese wird ausgestellt, wenn sie nach der Ermahnung und der darauffolgenden Stellungnahme des Mitgliedsstaates immer noch davon überzeugt ist, dass dieser gegen Unionsrecht verstößt. Auch hier wird eine in der Regel zweimonatige Frist gesetzt. So soll der Staat immer noch die Möglichkeit haben, seinen Verpflichtungen freiwillig nachzukommen oder sich zu erklären. Hier muss, unter Umständen noch genauer als im Mahnschreiben, dargelegt werden, gegen welche Vorschriften des Unionsrechts der Staat nach Ansicht der Kommission verstoßen hat und auf welche Tatsachen dies die Kommission stützt. Schließlich kann der Mitgliedsstaat noch eine Stellungnahme zu der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission abgeben, um die Kommission zu überzeugen. Somit wäre der Pingpong-Ballwechsel endgültig komplett.
Im Fall der Fälle: Ein Wiedersehen in Luxemburg?
Kommt der Mitgliedsstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht nach, kann die Kommission schließlich vor den Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg ziehen und auf Feststellung, dass das Verhalten des Mitgliedsstaates gegen bestimmte Unionsrechtsvorschriften verstößt, klagen. Laut der Kommission verstoße das ungarische Gesetz gegen die Menschenwürde, den Gleichheitsgrundsatz und fundamentale Menschenrechte, wie sie auch in der Europäischen Grundrechtecharta festgelegt sind. Ob es tatsächlich zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn kommt, bleibt abzuwarten. Die Einleitung des Verfahrens liegt im freien Ermessen der Kommission. Schwere Verstöße, wie zum Beispiel gegen die Grundrechte, dürfen aber nicht ungeahndet bleiben. Die Kommission bleibt außerdem verantwortlich, für die Einhaltung von Unionsrecht zu sorgen, wovor sie nicht aufgrund politischer Schwierigkeiten zurückschrecken sollte. Nach einem Urteil des Gerichtshofs müsste Ungarn Maßnahmen ergreifen, die sich aus diesem ergeben, zum Beispiel das Gesetz entsprechend abzuändern oder es außer Kraft zu setzen. Bei Nichtbeachtung des Urteils müsste die Kommission den Gerichtshof erneut anrufen. Dieser kann dann finanzielle Sanktionen in Form eines Pauschalbetrags oder eines Betrags für jeden weiteren Tag der andauernden Nichtumsetzung des Urteils festlegen. Bis dorthin wäre es jedoch noch ein langer Weg.
Kurzgesagt:
Ist die Europäische Kommission der Auffassung, dass ein Mitgliedsstaat Unionsrecht verletzt, kann sie beim Europäischen Gerichtshof Klage erheben. Dieser kann dann eine Rechtsverletzung feststellen.
Es muss jedoch ein Vorverfahren eingehalten werden, in dem der betroffene Mitgliedsstaat ausreichend Gelegenheit hat, sich zu den Vorwürfen zu äußern und freiwillig seine unionsrechtlichen Pflichten zu erfüllen.
Ob es im Fall Ungarn zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommen wird, liegt im Ermessen der Kommission. Aktuell befinden wir uns noch im informellen Vorverfahren ohne rechtliche Wirkung.
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Wenn Sophie Hoffmann nicht gerade Gast-Beiträge für überzuckert schreibt, arbeitet sie als Rechtspraktikantin bei der Staatsanwaltschaft Eisenstadt. Zu diesem Beitrag motiviert haben sie neben ihrer Leidenschaft für Europa und ihrem baldigen Job im Völkerrechtsbüro des Außenministeriums auch die guten Erinnerungen an ihr Erasmus-Semester in den Niederlanden.
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