Triage: Transparente Behandlungskriterien oder Diskriminierung?
Die Omikron-Variante trifft nun auch Österreich mit voller Wucht. Expertinnen befürchten nicht nur steigende Inzidenzen, sondern auch eine erneute Überlastung der heimischen Intensivkapazitäten. Ärztinnen stehen somit womöglich bald vor der moralisch schwierigen Entscheidung einer Triage. Unter „Triage“ versteht man in der Medizin eine Methode, nach der während Pandemien oder Katastrophen die Reihenfolge der Versorgung der Betroffenen festgelegt werden muss. Wen kann ich noch behandeln und für wen gibt es im Extremfall keine intensivmedizinische Behandlung mehr?
Wer entscheidet über diese wichtige Frage, bei der es um Leben und Tod gehen kann, und auf welcher Grundlage? In dieser Debatte hat das Deutsche Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Tagen eine aufsehenerregende Entscheidung getroffen: Bisher gibt es in Deutschland sogenannte klinisch-ethische Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften, aufgrund derer Ärztinnen zu entscheiden haben, welche Covid-19-Patientin ein Intensivbett oder eine Beatmungsmaschine erhält und welche vorerst nicht. Dabei handelt es sich jedoch nicht um verbindliche Gesetze, sondern bloß um unverbindliche Empfehlungen. Diesen zufolge ist bei der Triage-Entscheidung ausschließlich auf das Kriterium der „besseren Überlebenschance“ abzustellen. Dabei ist stets nur die aktuelle und akute Krankheit einer Patientin zu berücksichtigen. Demgegenüber sind daneben bestehende Grunderkrankungen für die Triage-Entscheidung unerheblich. Das deutsche Grundgesetz verbietet nämlich, den Lebenswert von Kranken mit jenem von Gesunden abzuwägen: Das Leben einer betagten Seniorin mit Vorerkrankungen ist grundsätzlich genauso schützenswert wie jenes einer jungen Frau. Sohin dürfen Alter, Impfstatus, soziale Merkmale oder eine Behinderung keine Rolle spielen. Menschen, die gegen das Covid-19-Virus geimpft sind, dürfen nicht gegenüber Ungeimpften bevorzugt werden. Ebenso wenig dürfen soziale Aspekte, wie z.B. die Beurteilung, ob die Betroffene arm oder wohlhabend ist, eine Rolle spielen. Gerade aber diese Ausnahmen ließen einige Menschen aufhorchen, denn Menschen mit Behinderung fürchten trotz der bestehenden Empfehlungen, im Ernstfall benachteiligt zu werden und klagten.
Wie hat das Deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden?
Das Bundesverfassungsgericht gab den Klägerinnen Recht. Es ist der Ansicht, dass Menschen mit Behinderung in einer Triage-Situation – unter den aktuellen Rahmenbedingungen - nicht ausreichend geschützt wären. Konkret bestehe das Risiko, dass sie aufgrund ihrer Behinderung und ihres damit verbundenen Gesundheitszustandes unbewusst benachteiligt werden. Laut den Verfassungsrichterinnen sei es problematisch, dass die bestehenden Empfehlungen rechtlich nicht bindend sind. Außerdem gelte bereits die „Gebrechlichkeit“ als negatives Kriterium für die Überlebenschancen, weshalb Menschen aufgrund ihrer Behinderung schlechtere Genesungschancen zugestanden werden könnten. Das Bundesverfassungsgericht forderte dementsprechend eine unverzügliche gesetzliche Regelung der Triage. Dadurch soll derartigen Benachteiligungen ein Riegel vorgeschoben und dem Grundrecht auf den „Schutz des Lebens“ Rechnung getragen werden. Als Empfehlung an die Gesetzgebung hat das Gericht unter anderem empfohlen, ein Mehraugenprinzip bei der Entscheidung über die Behandlungsreihenfolge sowie eine Dokumentation des Vorgangs zu implementieren. Trotz dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommt dem deutschen Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung der Regelung aber ein Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.
Wie ist die Rechtslage in Österreich?
Während in Deutschland eine gesetzliche Regelung der Triage gefordert wird, sollen Ärztinnen in Österreich etwaige Triagen auch weiterhin aufgrund der im März 2020, von der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), publizierten „Klinisch-ethischen Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei COVID-19-Patientinnen“, vornehmen. Diese Empfehlungen wurden im November 2020 um ein weiteres, unverbindliches Konsensuspapier („Allokationsethische Orientierungshilfe für den Einsatz knapper intensivmedizinischer Ressourcen“) der Österreichischen intensivmedizinischen Fachgesellschaften (FASIM), ergänzt. Demzufolge sind bei der Entscheidung, welche Covid-Patientin im Extremfall zunächst behandelt wird, transparente Kriterien einzuhalten.
Demnach soll etwa das Vier- oder Mehraugenprinzip gelten, sodass nicht eine einzelne Ärztin, sondern ein aus mehreren Personen bestehendes Ethikboard, die Entscheidung trifft. Ärztinnen haben sich dabei an einem festgelegten Entscheidungsablauf (Algorithmus) und an medizinischen Parametern in Form eines Punktesystems (Score) zu orientieren. Damit soll eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für ein objektivierbares Vorgehen geboten werden, wobei die persönliche ärztliche Verantwortung nicht ersetzt wird. Zu den Scores gehören der ADL-Score, der auf die Alltagskompetenz der Patientinnen abstellt, sowie die Clinical Frailty Scale, womit die Gebrechlichkeit bewertet wird. Bei chirurgischen Patientinnen soll zusätzlich der POS-POM-Score (Präoperativer Score zur Vorhersage der postoperativen Mortalität) ausschlaggebend sein, vor Aufnahme auf die Intensivstation soll der SOFA-Score zur Beurteilung der Überlebenschance erhoben werden. Außerdem soll bei Ressourcenknappheit niemand gegen seinen Willen intensivmedizinisch behandelt werden. Schließlich ist bei einer Triage regelmäßig zu prüfen, ob die bereits eingeleitete intensivmedizinische Behandlung fortgesetzt werden soll oder nicht.
Auch hierzulande fürchten vor allem ältere Menschen, bei einer Covid-Infektion keine rechtzeitige intensivmedizinische Behandlung zu erlangen. Zu Recht? Wohl nicht, denn auch in Österreich soll das Alter einer Patientin für sich genommen kein Behandlungskriterium sein; ebenso wenig wie das bloße Vorhandensein bestimmter Grunderkrankungen, Behinderungen oder der soziale Status der Betroffenen. In Österreich gilt bereits seit dem Staatsgrundgesetz 1867 der sogenannte Gleichheitssatz als Verfassungsgebot. Dazu stellt Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes fest, dass "alle Bundesbürger (…) vor dem Gesetz gleich" sind und erweitert diesen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz durch den Satz: "Vorrechte der Geburt, des Geschlechts, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen".
Kritik am österreichischen Kriterienkatalog:
Trotz des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes, der priorisierte Behandlungen aufgrund des Alters oder einer Grunderkrankung nicht zulässt, wird Kritik am Konsensuspapier der österreichischen intensivmedizinischen Fachgesellschaften (FASIM) geübt. So ortet etwa der Vizepräsident des Österreichischen Behindertenrates, Klaus Widl, Handlungsbedarf. Auch wenn gemäß dem Konsensuspapier jede Person dasselbe Grundrecht auf Leben habe und in einer Triage-Situation nicht auf das Alter und die damit verbundene Restlebensdauer oder die verbleibende Lebensqualität abgestellt werden dürfe, fordert Widl rasch gesetzliche Grundlagen. Schließlich gilt das Konsensuspapier als rechtlich unverbindlich. Gesetzliche Grundlagen zur Regelung der Triage würden Rechtssicherheit und Schutz für Menschen mit Behinderung mit sich bringen.
Kurz gesagt:
Als „Triage“ wird in der Medizin eine Methode bezeichnet, nach der während Pandemien die Versorgungsreihenfolge der Patientinnen festgelegt wird, da die Behandlungskapazitäten für eine gleichzeitige Versorgung nicht ausreichen.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht sah bei den geltenden, rechtlich nicht bindenden klinisch-ethischen Empfehlungen die Gefahr der Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung, weshalb es eine rasche gesetzliche Regelung der Triage forderte.
In Österreich soll die Entscheidung vorerst bei den Medizinerinnen anhand eines rechtlich unverbindlichen, transparenten Kriterienkatalogs gemäß der „Klinisch-ethischen Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei COVID-19-Patientinnen“ von der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) und dem Konsensuspapier „Allokationsethische Orientierungshilfe für den Einsatz knapper intensivmedizinischer Ressourcen“ von den Österreichischen intensivmedizinischen Fachgesellschaften (FASIM) bleiben.
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