Shitstorm II: Urteil stärkt Opferrechte
Personen, die sich an Shitstorms beteiligen, müssen den Gesamtschaden gegenüber dem Opfer leisten. Was der Oberste Gerichtshof (OGH) bereits vor zwei Monaten entschieden hat, ist seit kurzem öffentlich einsehbar. Was bewirkt dieses Urteil und wieso wird es als wegweisend bezeichnet?
Der Hintergrund
Anfang des Jahres 2021 wurde ein Video von einem Polizisten auf Facebook veröffentlicht, das diesen bei einer Demonstration zeigte, mit der Behauptung, dieser wäre bei der Demonstration eskaliert und hätte einen 82-jährigen Mann misshandelt und stundenlang verhört. Außerdem beinhaltete der Text den Aufruf, das Gesicht des vermeintlich Schuldigen, um die ganze Welt zu verbreiten. Tatsächlich war der Polizist jedoch nur als Teil einer Absperrkette im Einsatz und nicht an der angesprochenen Amtshandlung beteiligt. Dieser Beitrag, genauer gesagt ein Screenshoot davon, wurde von einem weiteren Facebook-Nutzer (der Beklagte) verbreitet, ohne dass dieser überprüft hatte, ob sie von ihm verbreitete Behauptung stimmte. Obwohl das Bild nur sechs Tage lang online war, wurde es von mindestens 406 weiteren Personen geteilt und löste damit einen massiven Shitstorm (also einem Sturm der Entrüstung im virtuellen Raum mit zum Teil beleidigenden Äußerungen gegen eine Person) gegen den Polizisten aus, der wüsten Beschimpfungen und Anfeindungen ausgesetzt war. Auch seine Kollegen und seine Familie sprachen ihn auf das Bild an. Es liegt auf der Hand, dass die Situation für den Polizisten, der sich ständig rechtfertigen musste, äußerst belastend war. Aber auch die Suche nach Personen, die den Beitrag ebenfalls teilten, kostete ihn erhebliche private Ressourcen. Der Polizist erhob daraufhin Klage auf Schadenersatz wegen der erlittenen Rufschädigung und für den erlittenen psychischen Stress.
Das Erstgericht verpflichtete den Beklagten zur Leistung von € 450 und zum Widerruf der unwahren Behauptungen. Das reichte dem Polizisten jedoch nicht, sodass er infolge das Rechtsmittel der Berufung einlegte. Er empfand den zugesprochenen Betrag als zu niedrig und verlangte Auskunft über die Verbreitung des Postings, um den Gesamtschaden besser beziffern zu können.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts weitgehend, erklärte aber die ordentliche Revision (das, gegen das Urteil eines Berufungsgerichts zu erhebende Rechtsmittel) wegen des Fehlens von Rechtsprechung zur Anrechnung von Entschädigungen nach dem Urheberrechtsgesetz und der DSGVO sowie zur Frage einer allfälligen Solidarhaftung aller „Shitstorm-Teilnehmer“ für zulässig.
Womit befasste sich der OGH?
Die zentrale Frage des darauffolgenden Verfahrens vor dem OGH war, ob und in welchem Ausmaß aufgrund eines Shitstorms unter Verletzung des Datenschutzes und des Rechts am eigenen Bild, ein Anspruch auf Entschädigung des entstandenen immateriellen Schadens besteht.
Die Verletzung des Datenschutzes
Der Datenschutz wird durch die Bestimmungen der DSGVO und des Datenschutzgesetzes (DSG) geregelt. Gemäß § 1 Abs 1 DSG (welcher in Verfassungsrang steht) hat jede Person Anspruch auf Geheimhaltung der sie betreffenden personenbezogenen Daten, soweit ein schutzwürdiges Interesse daran besteht.
Personenbezogene Daten sind dabei alle Informationen, die eindeutig einer bestimmten Person zuordenbar sind oder durch welche die Zuordnung zumindest mittelbar erfolgen kann. Bei einem Foto, auf dem die Person erkennbar ist, handelt es sich somit unzweifelhaft um personenbezogene Daten.
Die Verarbeitung (also zum Beispiel das Speichern oder die Verwendung) personenbezogener Daten durch Dritte ist nur in folgenden Fällen rechtmäßig:
1. Bei Vorliegen einer Einwilligung der betroffenen Person
2. Zur Vertragserfüllung
3. Zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung
4. Zum Schutz lebenswichtiger Interessen
5. Im Rahmen der Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse
6. Wenn ein berechtigtes Interesse des Verarbeitenden (sog. Verantwortlicher) oder eines Dritten vorliegt (und das Schutzinteresse der betroffenen Person nicht überwiegt.)
Die Verletzung des Urheberrechts
Das Urheberrechtsgesetz (UrhG) regelt die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz des geistigen Eigentums in den Bereichen der Literatur, der Tonkunst, der bildenden Künste und der Filmkunst. Es werden zum einen die Rechte der Urheber und verwandte Schutzrechte normiert, zum anderen die Bedingungen und Einschränkungen für die Nutzung geschützter Werke festgelegt. Auch der Brief- und der Bildnisschutz sind im UrhG geregelt.
Gemäß § 78 Abs 1 UrhG dürfen Bildnisse von Personen weder öffentlich ausgestellt noch auf eine andere Art, wodurch sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, verbreitetet werden, wenn dadurch berechtigte Interessen des Abgebildeten verletzt werden.
Welche Ansprüche können bei Verstößen gegen den Daten- und Bildnisschutz geltend gemacht werden?
Es ist allgemein anerkannt, dass eine Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten neben materiellen auch immaterielle Schäden (das sind Schäden, die keine Vermögenseinbuße darstellen) verursachen kann. Art 82 DSGVO und § 29 Abs 1 DSG gewähren ausdrücklich "immateriellen Schadenersatz" für die ideellen Folgen einer Datenschutzverletzung, ebenso wie § 87 Abs 2 UrhG immateriellen Schadenersatz für Verletzungen des Bildnisschutzes gewährt.
Während die Rechtsprechung für den Anspruch auf Schadenersatz bei Verletzungen des Bildnisschutzes verlangt, dass die erlittene Kränkung über den gewöhnlichen Ärger aufgrund einer Urheberrechtsverletzung hinausgeht, gibt es für den Schadenersatzanspruch nach der DSGVO keine Erheblichkeitsschwelle. Damit ist auch für geringfügige Gefühlsbeeinträchtigungen, wie Ängste oder Stress, die durch eine erfolgte oder auch nur drohende Bloßstellung oder Diskrimierung enstanden sind, Ersatz zu leisten.
Welche Voraussetzungen müssen für die Gewährung von Schadenersatz vorliegen?
Neben einer rechtswidrigen Handlung und dem Eintritt des Schadens muss immer auch der Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Schadenseintritt vorliegen.
Im konkreten Fall bestritt der Beklagte, dass sein Verhalten den Schaden des Polizisten verursacht habe. Er argumentierte, dass es nicht sicher sei, ob auch nur eine einzige Person seinen Beitrag gesehen habe und, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch andere Facebook-Profile unabhängig von ihm den Post ebenfalls weiterverbreitet haben.
Der OGH stellte fest, dass ein Shitstorm erst dann vorliegt, wenn eine nicht exakt erfassbare Menge an Teilnehmenden massenhaft im Internet Empörung äußert, weil erst da die besondere Wucht eines solchen Ereignisses entsteht. Damit kann ein Einzelner einen Shitstorm zwar lostreten, ihn mitverursachen oder daran teilnehmen, er kann ihn jedoch nicht alleine bewirken.
Die Frage der Schadensverursachung bei mehreren rechtswidrig und schuldhaft Handelnden ist ein wiederkehrendes Thema in der Rechtsprechung. Es ist bereits anerkannt, dass wenn Handlungen oder Unterlassungen mehrerer Personen, die jeweils für sich als Haftungsgrund geeignet sind, als Schadensursache in Frage kommen und nicht feststellbar ist, wer von ihnen den Schaden tatsächlich verursacht hat, jeder potenzielle Täter aufgrund "alternativer Kausalität" für den Schaden haftet. Jeder der potenziellen Schädiger muss dafür ein Verhalten gesetzt haben, das abgesehen vom strikten Nachweis der Kausalität alle haftungsbegründenden Elemente enthält. In solchen Fällen hat nicht der Geschädigte das Risiko der Unaufklärbarkeit zu tragen, sondern die Schädiger.
Im Gegensatz dazu haben bei der sogenannten „kumulativen Kausalität“ die Schädiger eine reale und gleichzeitig wirksam werdende Ursache gesetzt, welche jede für sich allein den Schaden herbeigeführt hätte. Ein einzelner Schädiger kann sich dann nicht darauf zurückziehen, der Schaden wäre ohnehin durch die Tätigkeit eines anderen Schädigers entstanden, die eigene schädliche Handlung sei also nicht kausal für den Eintritt des Schadens gewesen. Auch diese Konstellation wird zu Lasten der Schädiger so gelöst, und zwar so, dass das einzelne Verhalten der Schädiger jeweils den Schaden ausgelöst hätte, auch wenn es an der anderen Ursache gefehlt hätte.
Für die Verursachung eines Schadens erst durch das Zusammenwirken mehrerer Schadensbeiträge wird der Begriff „summierte Einwirkungen“ verwendet. Hier können mehrere Ereignisse einen Schaden nicht für sich allein genommen, sondern nur durch ihr Zusammenwirken herbeiführen.
Zwar hat zweifellos jeder Teilnehmer durch Teilen des Bildes selbst eine Datenschutz- und eine Bildnisschutzverletzung begangen, doch besteht die Besonderheit des vorliegenden Falls darin, dass ein Shitstorm und der damit einhergehende Schaden erst durch die Beteiligung Mehrerer entstehen. Die damit normalerweise einhergehende Unaufklärbarkeit der Verursachung einzelner Folgen durch das konkrete (Re-)Posten hat nach der wertenden Betrachtung im Schadenersatzrecht nicht der Geschädigte, sondern der Schädiger zu tragen.
Zusammenfassend kommt es für das Vorliegen der Kausalität des einzelnen Beteiligten damit nicht darauf an, dass der Kläger bei jeder erlittenen Beeinträchtigung die konkrete Quelle der herabsetzenden Äußerung nachweisen kann. Solange alle Teilnehmer des Shitstorms ein konkret gefährliches und daher kausal verdächtiges Fehlverhalten setzen, müssen sie das Risiko der Unaufklärbarkeit tragen.
Und wer muss jetzt für den Gesamtschaden aufkommen?
Solidarhaftung
Wenn mehrere Täter an einem Schaden beteiligt sind, regeln § 1301 und § 1302 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), ob jeder von ihnen für den gesamten Schaden (Solidarhaftung) oder nur für einen Teil davon haftet. Entscheidend sind dabei der Grad des Verschuldens und die Bestimmbarkeit der Anteile am Schaden.
Laut § 1301 ABGB können mehrere Personen für einen widerrechtlich verursachten Schaden verantwortlich gemacht werden, wenn sie „gemeinschaftlich, unmittelbar oder mittelbar, durch Verleiten, Drohen, Befehlen, Helfen, Verhehlen oder auch nur durch Unterlassen der besonderen Verbindlichkeit, das Übel zu verhindern, dazu beigetragen haben“. Die Täter haften gemäß § 1302 ABGB solidarisch, wenn „der Schaden vorsätzlich zugefügt worden ist“.
Gemeinschaftlichkeit im Sinne des § 1301 ABGB liegt auch dann vor, wenn zwischen den Tätern kein Einvernehmen über die Schädigung besteht, jedoch über die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens, bei dessen Verwirklichung eine unbeabsichtigte Schädigung erfolgt. Nur wenn eindeutig nachgewiesen werden kann, dass das Verhalten eines Handelnden für den Schadenseintritt nicht kausal war, wird die Haftung nach §§ 1301, 1302 ABGB ausgeschlossen.
Gemäß § 1302 2. Satz ABGB haften mehrere Schädiger solidarisch, wenn sich ihre „Anteile“ am Schaden nicht bestimmen lassen. Der Schädiger, der für den Gesamtschaden aufkommen musste, kann danach im Wege des § 896 ABGB Regress nehmen. Damit wird das Risiko der Uneinbringlichkeit nicht von der geschädigten Person, sondern von den Schädigern getragen.
Im anfänglich genannten Fall wurde der Beklagte somit zur Zahlung des gesamten vom klagenden Polizisten begehrten Betrags in Höhe von € 3.000 als Ersatz für den von ihm erlittenen Schaden verurteilt.
Kurz gesagt
Das Opfer eines Shitstorms muss jede von ihm erlittenen Kränkung, beispielsweise durch Konfrontationen im persönlichen Umfeld, auf eine konkrete „Quelle“ zurückführen und belegen. Es genügt nachzuweisen, Opfer eines Shitstorms gewesen zu sein, und dass sich der konkret belangte Schädiger daran rechtswidrig und schuldhaft beteiligt hat.
Die mit einem Shitstorm einhergehende Unklarheit über die Verursachung einzelner Folgen und die Unteilbarkeit des Schadens tragen die Beteiligten mit der Konsequenz, dass die geschädigte Person den Ersatz des gesamten Schadens im Wege der Solidarhaftung auch nur von einem von ihnen verlangen kann.
Die Schädiger haben die Schadensaufteilung im Regressweg untereinander vorzunehmen.
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