Südafrika gegen Israel beim Internationalen Gerichtshof
Ende Dezember reichte die Republik Südafrika gegen den Staat Israel eine Klage beim Internationalen Gerichtshof ein. Die erste Entscheidung wurde bereits getroffen: Letzten Freitag ordnete der Internationale Gerichtshof vorsorgliche Maßnahmen an, die für Israel verbindlich sind. Was wirft Südafrika Israel vor und was sind vorsorgliche Maßnahmen?
Am 29. Dezember 2023 brachte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eine Klage gegen Israel ein. Südafrika wirf Israel vor, im Gazastreifen die Verpflichtungen der Völkermordkonvention zu verletzen.
Was ist der IGH?
Laut Artikel 92 der UN-Charta, das ist die Satzung der Vereinten Nationen (UN), ist der IGH „das Hauptorgan der Rechtsprechung der Vereinten Nationen.“ Er entscheidet über zwischenstaatliche Streitigkeiten.
Der IGH setzt sich aus 15 Richterinnen zusammen, die aus der ganzen Welt stammen. Zusätzlich werden noch sogenannte ad-hoc-Richterinnen bestellt, falls keine der 15 Richterinnen über die Staatsangehörigkeit der Staaten verfügt, die vor Gericht Parteien sind. In diesem Fall bestellten daher sowohl Südafrika als auch Israel zusätzlich jeweils eine Richterin.
Wann kann der IGH entscheiden?
Der IGH ist nicht für jede konkrete Rechtsstreitigkeit zuständig. Im konkreten Fall kann der IGH nur entscheiden, wenn sich ihm beide Parteien unterworfen haben. Dies kann laut Artikel 36 des IGH-Statuts in folgender Weise erfolgen:
Durch Unterwerfung für den konkreten Rechtsstreit (das heißt ein Staat hat sich zwar nicht generell dem IGH unterworfen, möchte aber einen bestimmten Rechtsstreit durch ihn geklärt wissen);
durch eine Klausel in einem völkerrechtlichen Vertrag; oder
durch eine generelle Unterwerfungserklärung. Österreich hat eine solche generelle Unterwerfungserklärung 1971 abgegeben.
Weder Südafrika noch Israel haben eine generelle Unterwerfungserklärung abgegeben. Israel hat sich auch nicht für den Rechtsstreit unterworfen, sondern die Zuständigkeit bestritten. Südafrika wirft Israel jedoch die Verletzung der Völkermordkonvention vor. Beide sind Vertragsstaaten der Völkerrechtskonvention. Artikel IX der Konvention bestimmt, dass für Streitigkeiten zwischen Vertragsstaaten bezüglich deren Auslegung, Anwendung oder Durchführung der IGH zuständig ist. Der IGH führte in seiner Anordnung aus, dass er dem ersten Anschein zuständig sei, da ein Streit über die Anwendung der Völkermordkonvention besteht. Endgültig wird er in der Endentscheidung über die Zuständigkeit entscheiden.
Auf derselben Grundlage ordnete der IGH im März 2022 an, Russland müsse die Militäroperation in der Ukraine sofort aussetzen. Russland hat ebenso keine generelle Unterwerfungserklärung abgeben.
Was ist die Völkermordkonvention?
Laut Südafrika würde Israel durch sein Verhalten die Völkermordkonvention verletzen. Israel weist diesen Vorwurf entschieden zurück. Die Völkermordkonvention bzw. das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verbietet – wie der Name schon sagt – den Völkermord. Die Völkermordkonvention trat 1951 in Kraft und wurde vor allem als Reaktion auf den Holocaust erlassen.
Gemäß Artikel II der Völkermordkonvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Das wichtigste Kriterium der Verletzung von Artikel II ist die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Es ist sehr schwierig, eine solche Absicht nachzuweisen. Zum Beweis der vermeintlichen Absicht Israels hat Südafrika Aussagen von israelischen Politikern und Offizieren zitiert.
Vertragsstaaten sind auch verpflichtet, Völkermord zu verhüten, unterbinden und zu bestrafen. Auch diese können verletzt werden. Artikel I bestimmt:
"Die Vertragsparteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten."
Südafrika wirft Israel die Verletzung der Völkermordkonvention vor. Südafrika beantragte, der IGH solle unter anderem feststellen, dass Israel die Konvention verletzt und die Verfolgung der Täter sicherstellen solle.
Warum kann Südafrika überhaupt klagen?
Südafrika ist nicht oder zumindest nicht direkt in den Konflikt zwischen Israel und den Palästinenserinnen involviert. Trotzdem klagt Südafrika. Laut dem IGH haben alle Vertragsstaaten der Völkerrechtskonvention ein gemeinsames Interesse der Einhaltung dieser sicherzustellen. Ein solches gemeinsames Interesse bedeutet, dass die betreffenden Verpflichtungen von jedem Vertragsstaat allen anderen Vertragsstaaten des betreffenden geschuldet werde. Es handelt sich um eine Verpflichtungen erga-omnes ("gegenüber allen"). Dementsprechend kann jeder Vertragsstaat der Völkermordkonvention die Verantwortlichkeit eines anderen Vertragsstaates durch Einleitung eines Verfahrens vor dem IGH geltend machen.
Was sind vorläufige Maßnahmen?
Südafrika beantragte auch, dass der IGH vorläufige Maßnahmen anordnen solle. Gemäß Artikel 41 des Statuts des IGH ist der IGH befugt, diejenigen vorläufigen Maßnahmen bzw. Anordnungen zu erlassen, die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen, sofern es seines Erachtens die Umstände erfordern. Südafrika beantragte zum Schutz der Palästinenserinnen die Anordnung mehrerer solcher Maßnahmen.
Vorsorgliche Maßnahmen werden grundsätzlich nur angeordnet, wenn die Gefahr eines Schadens besteht, der nicht wiedergutgemacht werden kann. Außerdem muss Dringlichkeit vorliegen. Südafrika argumentierte, dass die Palästinenserinnen dringend Schutz benötigen.
Die mündliche Verhandlung fand im Sinne dieser Dringlichkeit bereits am 11. und 12. Jänner statt. Nur zwei Wochen später, am 26. Jänner 2024, verkündete der IGH seine Entscheidung über den Antrag auf Erlassung von vorläufigen Maßnahmen.
Was ordnete der IGH an?
Der IGH entschied nur über den Antrag auf vorläufigen Maßnahmen. Er stellte im Wesentlichen fest, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Verhängung solcher Anordnungen erfüllt waren, insbesondere, dass es plausibel sei, dass im Gazastreifen die Völkermordkonvention verletzt wird.
Der IGH entschied, vorläufige Anordnungen zu erlassen. Diese sind für Israel verbindlich. Dabei entschied er über jede Anordnung mit einer klaren Mehrheit von 15-2 oder mit 16-1 der Stimmen. Er ordnete unter anderem an, dass der Staat Israel alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen solle, um die Begehung von Völkermord in Bezug auf die Palästinenserinnen im Gazastreifen zu verhindern. Israel muss auch humanitäre Hilfe im Gazastreifen ermöglichen. Einen Monat nach Erlass der Entscheidung über die ergriffenen Maßnahmen soll Israel berichten. Die anderen angeordneten Maßnahmen kann man hier nachlasen.
Eine Maßnahme erließ der IGH jedoch nicht: Er verfügte nicht, dass Israel die Militäroperation aussetzen müsse. Der IGH forderte außerdem die sofortige und bedingungslose Freilassung der israelischen Geiseln.
Wie geht es weiter?
Aufpassen: Die Anordnung dieser vorläufigen Maßnahmen bedeutet nicht, dass der IGH entschieden hat, dass Israel die Völkermordkonvention verletzt hat oder Völkermord begangen hat. Der IGH bekräftigte, dass die Entscheidung in keiner Weise die Klage vorentscheidet. Südafrika und Israel werden noch die Möglichkeit erhalten, umfassend zu diesen Fragen zu argumentieren. Bei der Entscheidung über vorsorglichen Maßnahmen gilt ein niedrigeres Beweismaß. Insbesondere was die Absicht, einen Völkermord zu begehen, betrifft, wird ein hohes Beweismaß verlangt. Das Verfahren wird nun fortgesetzt. Das kann allerdings noch länger dauern.
Kurz gesagt:
Ende Dezember brachte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eine Klage gegen Israel ein. Südafrika bringt vor, Israel hätte im Gazastreifen die Verpflichtungen der Völkermordkonvention verletzt. Nachdem Anfang Jänner die mündliche Verhandlung stattgefunden hatte, ordnete der IGH Ende Jänner vorsorgliche Maßnahmen an.
Der IGH entschied mit klarer Mehrheit, vorsorgliche Maßnahmen zu erlassen, die für Israel verbindlich sind, die für Israel verbindlich sind. Israel muss in einem Monat über die ergriffenen Maßnahmen berichten.
Das Verfahren läuft nun weiter. Die Entscheidung des IGH ist nicht die Endentscheidung.
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