Neutralität vs. Solidarität – Die ambivalente Rolle Österreichs im Ukraine-Konflikt
Hierzulande rühmt man sich gerne dem Bekenntnis zur „immerwährenden“ Neutralität. Dieses ist nicht nur in der österreichischen Bundesverfassung festgehalten, sondern bietet auch den alljährlichen Anlass des heimischen Staatsfeiertages. Im aufflammenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wird diese Neutralität aktuell aber besonders auf die Probe gestellt. Denn während die einen von Österreich und der Europäischen Union ein möglichst umfangreiches Sanktionspaket gegen Russland erwarten, mahnen die anderen umso mehr die umfassende Achtung des Neutralitätsgebots ein. Damit liegt die Frage auf der Hand: Wozu ist Österreich nach dem Neutralitätsgesetz tatsächlich verpflichtet?
Das Pulverfass an der ukrainischen Grenze – Sanktionen gegen Russland?
Die zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der Ukraine, insbesondere die Stationierung russischer Militärtruppen nahe der ukrainischen Grenzen, bestimmen seit Wochen die medialen Schlagzeilen. Politische Beobachterinnen befürchten teils einen Einmarsch Russlands und damit verbundene, kriegerische Auseinandersetzungen. Angesichts der Gefahr eines bewaffneten Konflikts auf europäischem Boden zeigte sich zuletzt auch die Europäische Union höchst besorgt: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte Russland vor wenigen Tagen ein „umfassendes Paket von Finanz- und Wirtschaftssanktionen“ in Aussicht. Österreich – als Mitgliedstaat der EU - hat bereits angekündigt, derartige Sanktionen im Ernstfall ebenso mitzutragen. Aber dürfen „wir“ das überhaupt oder verstoßen derartige Maßnahmen gegen das Neutralitätsgebot?
Was bedeutet Neutralität?
Mit dem Abzug ausländischer Besatzungstruppen im Jahr 1955 hat Österreich seine immerwährende Neutralität erklärt. Diese Selbstverpflichtung findet sich bis heute in Artikel 9a des Bundes-Verfassungsgesetzes und dem eigens beschlossenen Neutralitätsgesetz.
Inwieweit sich Österreich als neutraler Staat aber tatsächlich in internationale Konflikte einmischen darf, ist im Neutralitätsgesetz nicht vollumfänglich geregelt und gibt daher seit jeher Anlass für Diskussionen: Ein neutraler Staat darf nicht an bewaffneten Konflikten teilnehmen - so viel ist klar. In der Vergangenheit wurde die Neutralität aber noch umfassender verstanden: Nach diesem Verständnis durften sich neutrale Staaten nicht einmal an politischen bzw. wirtschaftlichen Bündnissen beteiligen. Außerdem war ihnen die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen andere Staaten unmöglich. Diese Neutralitätsvorstellung wurde auch in Österreich zumindest bis zum Ende des „Kalten Krieges“ vertreten.
Der Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1995 hat diesbezüglich allerdings viele Fragen aufgeworfen. Schließlich haben sich die EU-Mitgliedstaaten vertraglich auf eine sogenannte „gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) verständigt. Diese macht auch gemeinsame Wirtschaftssanktionen gegen andere Staaten möglich. Der Vertrag über die Europäische Union verpflichtet die Mitgliedstaaten grundsätzlich sogar dazu, im Fall bewaffneter Angriffe umfassende Unterstützung zu leisten (Artikel 42 Absatz 7 EUV).
Mit dem traditionellen Verständnis von Neutralität ist diese Form der europäischen Solidarität naturgemäß nur schwer vereinbar. Das kritisierte erst am vergangenen Wochenende auch die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr, indem sie unter Berufung auf die Neutralität dafür eintrat, (wirtschaftliche) Sanktionen gegen Russland lieber zu unterlassen.
Das österreichische Neutralitätsverständnis
Unerwähnt ließ Kahr in ihrem Statement allerdings, dass wirtschaftliche Sanktionen heutzutage zumindest aus juristischer Perspektive mit der österreichischen Neutralität vereinbar sein dürften.
Seit dem Beitritt zur Europäischen Union wird rechtlich nämlich von einer engeren Neutralitätsverpflichtung ausgegangen. Diese ist primär auf militärische Unparteilichkeit beschränkt: Österreich darf also keinem militärischen Staatenbündnis beitreten oder die Errichtung militärischer Stützpunkte anderer Staaten auf heimischem Boden zulassen.
Eine kriegerische Unterstützung oder ein Beitritt Österreichs zum Militärbündnis NATO wären mit der Neutralität also unvereinbar. Wirtschaftliche Sanktionen sind demgegenüber rechtlich unbedenklich. Politisch werden sie aber wohl auch in den kommenden Tagen ganz besonders heiß diskutiert werden.
Kurz gesagt:
Österreich bekennt sich verfassungsrechtlich zu seiner immerwährenden Neutralität. Was darunter genau zu verstehen ist, wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert.
Lange Zeit wurde die österreichische Neutralität weit verstanden und von jeder Einmischung in internationale Auseinandersetzung Abstand genommen. Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und die damit verbundenen Solidaritätsverpflichtungen haben dieses Verständnis nachhaltig verändert.
Heute wird juristisch von einem engen Neutralitätsverständnis ausgegangen, wonach Österreich in erster Linie militärische Interventionen und Aktivitäten zu unterlassen hat. Wirtschaftliche Sanktionen sind aus rechtlicher Sicht aber weitestgehend unbedenklich.
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