Impfpflicht - der Weg in die Freiheit oder eine Verletzung der Grundrechte?
Socializing und Reisen scheinen im Moment wieder klare Priorität zu sein. Das, sowie die Ausbreitung der ansteckenderen Delta-Variante, lassen die Zahl der COVID-19-Neuinfektionen in die Höhe schießen. Indes sinkt die Impfbereitschaft in der Gesellschaft. Europaweit werden daher Stimmen lauter, die den einzig sinnvollen Weg aus der Pandemie in einer Impfpflicht erblicken. Ist eine solche rechtlich zulässig oder unter gewissen Umständen sogar geboten?
In der EU haben einige Länder, darunter Frankreich, Italien und Griechenland, bereits den Vorstoß gewagt und unter teilweisem Protest der Bevölkerung eine Impfpflicht für das Personal im Gesundheits- bzw Pflegebereich eingeführt. Auch in Österreich hört man, dass einige Bundesländer denselben Weg für neu angestellte Arbeitskräfte beschreiten wollen und eine Ausweitung auf Lehrerinnen erwägen.
Was für viele fremd scheinen mag, war in der Geschichte Österreichs hinsichtlich der Pockenkrankheit bereits Wirklichkeit. Diese unterlag nämlich bis 1980 einer Impfpflicht, welche letztlich auch zur Ausrottung der Pocken beigetragen hat. Über die Landesgrenzen hinaus zählt man derzeit 13 EU-Länder, in denen bereits Impfpflichten für andere Krankheiten existieren. Soweit zu den Fakten. Wie steht es jedoch heute rechtlich um die Einführung einer Impfpflicht in Österreich? Dreh- und Angelpunkt zur Beantwortung dieser Frage aus rechtlicher Sicht ist, ob solch eine Impfpflicht die Bürgerinnen in ihren Grundrechten verletzen würde. Demgegenüber könnte diese aus grundrechtlicher Sicht unter gewissen Umständen sogar geboten sein.
Grundrecht – was ist das eigentlich? Welche Grundrechte sind betroffen?
Grundrechte sind subjektive, also gerichtlich durchsetzbare, Rechte der Einzelnen. Sie sollen in erster Linie die Freiheiten der Bürgerinnen vor dem Staat schützen. Dieser muss sich also einerseits aus dieser Freiheitssphäre der Einzelnen heraushalten. Andererseits trifft den Staat auch die Pflicht, den Schutz und die Ausübung der Grundrechte durch entsprechende Maßnahmen aktiv zu gewährleisten. Das bedeutendste Gesetzeswerk, das die Grundrechte festhält, ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
Eine Einführung der Impfpflicht berührt einige unserer Grundrechte, von denen zwei zentral im Mittelpunkt stehen. Allen voran könnte das Grundrecht auf Leben (Art 2 EMRK) betroffen sein. Dieses schützt einerseits die körperliche Integrität der Einzelnen vor potentiell lebensgefährdenden Eingriffen durch den Staat. Solch ein Eingriff könnte gegeben sein, wenn eine tatsächliche Lebensgefahr durch die Impfung, zB durch Nebenwirkungen, besteht. Andererseits trifft den Staat im Rahmen des Grundrechts auf Leben auch die Aufgabe, die Einzelnen aktiv vor absehbaren Bedrohungen für das Leben zu schützen. Da eine COVID-19 Erkrankung für manche lebensgefährlich ist, könnte es auch sein, dass gerade das Recht auf Leben gebietet, eine Impfpflicht einzuführen. Die Verletzung dieses Grundrechts könnte dann gerade darin liegen, dass der Staat keine Impfpflicht eingeführt hat.
Große Bedeutung im Kontext der Impfpflicht kommt weiters dem Grundrecht auf Achtung des Privatlebens (Art 8 EMRK) zu. Dieses umfasst nämlich auch die Selbstbestimmung der Einzelnen und garantiert, dass medizinische Behandlungen – wie etwa Impfungen es sind – grundsätzlich nur mit Zustimmung des Betroffenen verabreicht werden dürfen. Aber auch persönliche Beziehungen und die Ausübung eines Berufs gehören zum Privatleben. Ein dementsprechender Ausschluss aus einer sozialen oder beruflichen Gruppe als Konsequenz für nichtgeimpfte Personen berührt daher dieses Grundrecht.
Verletzt die Impfpflicht unsere Grundrechte? – Einmaleins der Grundrechtsprüfung
Grundrechte sind Teil der Verfassung. Das bedeutet, dass Gesetze, die sich nicht selbst im Verfassungsrang befinden, die Grundrechte nicht verletzen dürfen. Kaum ein Grundrecht ist jedoch absolut ausgestaltet: Daher können die allermeisten Grundrechte unter gewissen Voraussetzungen eingeschränkt werden, ohne dass dabei eine Verletzung vorliegt. Das Recht auf Privatleben kann zB aufgrund des öffentlichen Gesundheitsschutzes eine Einschränkung erfahren. Um zu beurteilen, ob eine Impfpflicht erlaubt ist und keine Grundrechtsverletzung darstellt, muss sie rechtlich einer Grundrechtsprüfung standhalten. Dabei vorauszuschicken ist, dass nie eine allgemeine Impfpflicht für jede Krankheit eingeführt werden könnte, sondern jede Schutzimpfung einzeln auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten geprüft werden muss.
Um der Grundrechtsprüfung standzuhalten, muss der Gesetzgeber zuallererst eine gesetzliche Grundlage schaffen, auf welcher die Impfpflicht baut. Diese findet man zumindest teilweise schon jetzt im Epidemiegesetz. Danach können Impfungen für Personen verpflichtend angeordnet werden, die sich entweder berufsmäßig mit der Krankenbehandlung beschäftigen oder aber besonders gefährdet sind (§ 17 Epidemiegesetz).
Als zweite Komponente muss durch die Impfpflicht ein zulässiges öffentliches Interesse verfolgt werden. Dieses könnte im bereits oben genannten Schutz der Gesundheit gefunden werden. Weiters muss sie ein geeignetes Mittel sein, um das verfolgte öffentliche Interesse zu erreichen. Konkret müssten die dadurch erreichten Durchimpfungsraten wohl maßgeblich zur Überwindung der Pandemie beitragen, um als geeignetes Mittel eingestuft zu werden.
Last but not least – um zum wohl kontroversesten Punkt zu kommen – muss eine angestrebte Impfpflicht verhältnismäßig sein. Das heißt, sie darf im Verhältnis zum angestrebten Ziel keinen zu schweren Grundrechtseingriff darstellen. Hier wird in der Praxis insbesondere eine Abwägung des Rechts der Einzelnen auf Selbstbestimmung gegenüber den Interessen des Staates, die Pandemie zu bekämpfen, notwendig sein, um zu beurteilen, ob eine Impfpflicht eingeführt werden darf. Die Verhältnismäßigkeit wird auch stark davon beeinflusst, ob gelindere Maßnahmen bestehen, die den Gesundheitsschutz gewährleisten können. Dies könnten zB die 3G-Regel, mit der Impfung verbundene sozialrechtliche Vorteile oder eine nur für einen bestimmten Personenkreis geltende Impfpflicht – anstatt einer umfassenden – sein.
Ist die Impfpflicht aufgrund des Grundrechts auf Leben sogar geboten?
Der Schutz der Gesundheit ist nicht nur ein öffentliches Interesse, sondern auch Teil des Grundrechts auf Leben, wenn eine Lebensgefahr besteht. Die Lebensgefahr durch COVID-19 kann jedenfalls gegenüber vulnerablen Gruppen bejaht werden. Damit könnte hier aus grundrechtlicher Sicht sogar eine staatliche Pflicht existieren, eine Impfpflicht zum Schutz der Betroffenen umzusetzen. Doch selbst wenn diese Schutzpflicht besteht, muss sie dennoch in die oben beschriebene Prüfung darüber einbezogen werden, ob eine Impfpflicht verhältnismäßig ist und daher den Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens rechtfertigt. Eine allgemeine Impfpflicht wird man auf das Grundrecht auf Leben wohl nicht stützen können. Unter gewissen Umständen jedoch eine partielle, überall dort, wo besonders lebensgefährdete Gruppen eines Schutzes bedürfen und dieser ohne Anordnung einer Impfpflicht nicht erreicht werden kann.
... und die Sanktionen bei einem Verstoß gegen die Impfpflicht?
Weit verbreitet ist der Glaube, dass der Staat die Pflichtimpfung ohne Weiteres gewaltsam erzwingen kann. Diese Angst ist rechtlich jedoch weitgehend unbegründet, weil es kaum möglich scheint, dass solch eine Sanktion einen verhältnismäßigen Eingriff in unsere Grundrechte darstellt. Als mögliche Sanktionen kommen viel mehr Geldstrafen oder die Kürzung von bestimmten Sozialleistungen in Betracht. Auch könnte man – wenn unbedingt erforderlich – die Impfpflicht als Voraussetzung für den Ersteintritt in die Schule sowie für die Weiterbeschäftigung in einem bestimmten Beruf (etwa im Gesundheitsbereich) erwägen.
Ob der österreichische Gesetzgeber den Weg aus der Pandemie in die Freiheit über eine Impfpflicht wählt, bleibt offen. Aus rechtlicher Sicht wäre dieser unter gewissen Voraussetzungen aber wohl gangbar.
Kurz gesagt
Grundrechte sind subjektive (= gerichtlich durchsetzbare) Rechte der Einzelnen. Sie verpflichten den Staat teils, sich aus der Freiheitssphäre der Einzelnen herauszuhalten und teils, den Schutz und die Ausübung der Grundrechte durch entsprechende Maßnahmen aktiv zu gewährleisten. Bei der Einführung einer Impfpflicht wären zentral das Grundrecht auf Leben sowie das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens betroffen.
Um eine Impfpflicht einzuführen, muss man diese auf die Vereinbarkeit mit unseren Grundrechten prüfen. Rechtlich nimmt man eine sogenannte Grundrechtsprüfung vor. Dabei muss bewiesen werden, dass durch die Impfpflicht ein öffentliches Interesse verfolgt wird, die Impfpflicht ein geeignetes Mittel ist, um dieses zu erreichen und sie muss verhältnismäßig sein. Insbesondere wenn gelindere Maßnahmen infrage kommen, die genauso zielführend sind, ist eine Impfpflicht nicht verhältnismäßig und würde eine Grundrechtsverletzung bedeuten.
Der Gesundheitsschutz ist nicht nur ein öffentliches Interesse. Aus dem Recht auf Leben ergibt sich für den Staat vielmehr die Pflicht, die Gesundheit vulnerabler Gruppen zu schützen. Daher könnte eine partielle Impfpflicht im Gesundheitsbereich oder bei körpernahen Dienstleistungen sogar geboten sein, wenn Gruppen, für die eine Lebensgefahr besteht, anders nicht geschützt werden können.
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Grund- und verfassungsrechtliche Fragen sind bei weitem nicht Mariana Ristics einzige Stärke: Als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Zivilverfahrensrecht der Uni Wien sowie als ausgewiesene Expertin für Fragen der Schiedsgerichtsbarkeit bringt Mariana ein breitgefächertes juristisches Know-How mit, das sie uns mit ihrem Beitrag zur Verfügung gestellt hat. Dazu motiviert hat Mariana vor allem ihre große Begeisterung für das politische Tagesgeschehen auf der einen, sowie für leicht zugängliche Wissensvermittlung auf der anderen Seite.
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